Guy Sémon : Generaldirektor von TAG Heuer

Sie standen bisher für die hohe Uhrmacherkunst bei TAG Heuer. Nun möchten Sie die Marke auf erschwinglichere Uhren 

ausrichten. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das scheint nur auf den ersten Blick so. Ich landete vor zehn Jahren eher zufällig in der Uhrmacherei, um mich um die V4 zu kümmern, und leckte Blut. TAG Heuer hatte mich aufgrund meiner technologischen Kenntnisse engagiert, doch bereits damals war ich auch ein Unternehmer. Der Geschäftsmann schlummerte in mir, während ich im Laufe meines Abenteuers in der hohen Uhrmacherkunst für TAG Heuer um die Welt reiste, Teams zusammenstellte, mit Journalisten diskutierte, Kunden traf und Filialen besuchte, die sich mit mir nicht immer nur über die hohe Uhrmacherkunst unterhielten. Ich bin seit Langem mit der Vertriebsproblematik aller Länder vertraut. In der von mir geleiteten Abteilung für Forschung und Entwicklung wurde die Forschung in den Vordergrund gestellt. Doch die Entwicklung war schon immer ebenfalls von grösster Bedeutung, insbesondere die Entwicklung von kommerziellen Standardprodukten. Ich befasste mich auch schon immer mit ingenieurtechnischen Aspekten und habe Entwicklungsverfahren für Serienprodukte umgesetzt, die mehr Effizienz bezüglich Entwicklungszeiten, Homologierung, Qualitätszertifizierungen und Produktionskostenkontrolle brachten. Letztes Jahr haben wir hart am nächsten Zwischenziel gearbeitet und überlegt, wie wir die Erkenntnisse dieser Forschungsjahre in der hohen Uhrmacherkunst gewinnbringend nutzen können. Ich habe für dieses Kapitel in der Unternehmensgeschichte an der Spitze der Pyramide verantwortlich gezeichnet. Ich war drauf und dran, wieder meine sieben Sachen zu packen und zu neuen Horizonten aufzubrechen.

Doch dann wurde Jean-Claude Biver zum Chef der Uhrensparte von LVMH ernannt, und plötzlich ging alles sehr schnell. Die Begegnung mit ihm zählt für mich zu den beeindruckendsten Momenten meines beruflichen Lebens – und ich habe in 52 Jahren schon viele Menschen getroffen! Ich kannte ihn privat aus früheren Zeiten. Er hat mich menschlich und fachlich überzeugt. Neben seinem Pragmatismus und seinem Marketinggenie hat mich sein Fachwissen mit 45-jähriger Praxis beeindruckt. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. Er ist einfach einzigartig, mit seinen Stärken und Schwächen – ein Energiebündel, dem nicht immer ganz einfach zu folgen ist. Von ihm lernt man täglich. Jean-Claude Biver ist ein Visionär. Bei seiner Ankunft spürte ich, wie weit eine Marke wie TAG Heuer noch vorankommen kann. Was ich für sehr kostspielige Produkte entwickelt habe, gilt es nun für Produkte anzupassen, die für möglichst viele Menschen erschwinglich sind. Das heisst, einen Gang höher schalten, Skalenerträge realisieren und alles auf kommerzielle Produkte anwenden, ohne an Einzigartigkeit einzubüssen. Mein Kompetenzbereich umfasst immer noch eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung, aber auch Aspekte wie die Umsetzung sowie den Einkauf und die Absatzförderung. Es ist Teamarbeit, und bei TAG Heuer kann ich auf sehr gute Mitarbeiter zählen.

 

Was ist also die neue Vision von TAG Heuer?

Innovation zum erschwinglichen Preis unter Beachtung der Regeln der Schweizer Uhrmacherei für möglichst viele und junge Kunden. Die Philosophie der Marke entwickelt sich auch weiter, ist weniger arrogant. TAG Heuer ist nicht Patek, nicht Rolex und nicht Omega – das ist eine Tatsache. Wir müssen uns auf das besinnen, was wir sind, genau wie die Sportler und Segler, die grosse Bescheidenheit an den Tag legen, um ans Ziel zu gelangen.

 

Ziehen Sie sich aus dem Segment der hohen 

Uhrmacherkunst zurück?

Ich würde lieber sagen, dass das Wettrennen um die hohe Uhrmacherkunst gestoppt wird. Es hat uns den Einblick in viele physikalische Details gewährt und bis an die Grenzen der Hochfrequenz geführt. Erfindungen wie beim Mikrotourbillon und dem Mikrogirder waren für das Team-Building und das Erlernen der Technologie unerlässlich, und TAG Heuer wurde dafür auch am Grand Prix d’Horlogerie de Genève mit dem Goldenen Zeiger belohnt. Angesichts der superben traditionellen Manufakturen und der hochtalentierten unabhängigen Uhrmacher, die ebenfalls teilnahmen, war das eine Überraschung. Wir werden zukünftig nicht mehr in diesem Segment vertreten sein. Doch die dafür entwickelte Technologie wird für schöne Produkte zu angemessenen Preisen genutzt. Bei der V4 liegt der Fall anders, denn sie ist seit zehn Jahren ein Wahrzeichen und kommt als Phantom-Modell wieder an die Baselworld.

 

Wie steht es um die zukünftige Smartwatch?

Wir arbeiten sehr seriös daran, aber mit noch mehr Bescheidenheit als in den anderen Bereichen, da wir hier über keinerlei Erfahrungen verfügen. Eine schweizerische Smartwatch wird niemals für den fünffachen Preis einer Apple Watch verkauft werden können, die den Quarzuhrenmarkt im Damen- und Herrensegment aufmischen wird. Es wird noch eine Weile dauern, doch dann wird das Angebot explosionsartig ansteigen und schliesslich kaum jemand mehr daran etwas verdienen.

 

Welche Modelle werden in diesem Jahr die Bestseller?

Weiterhin die Carrera, unser historischer Bestseller. An der Baselworld enthüllen wir eine Neuinterpretation der 1887 mit anderem Namen, da es auch eine ganz andere Uhr ist. Ich bin dafür verantwortlich, dass auch unsere Produktionsanlage im jurassischen Chevenez ausgelastet ist, weshalb wir die 1887 mit einem neuen Image und einem sehr aggressiven Preis aufgepeppt haben. Bei den Damen werden wir die Carrera mit dynamischen Botschafterinnen wie Cara Delevingne boosten. Wir werden die Anzahl Kollektionen insgesamt zurückschrauben. Fünf sind zu viele. Die F1 war in der Vergangenheit unser Einstiegsprodukt, gefolgt von der Aquaracer, der Carrera, der Link und ganz oben der Monaco. Neu wird nun jede Linie über preislich unterschiedlich positionierte Modelle verfügen, um eine möglichst breite Zielgruppe anzusprechen.

 

Welche Begleitmassnahmen planen sie für diese Neuausrichtung?

Es ist noch verfrüht, um sich der gesamten Tragweite der von uns vor sechs Monaten eingeleiteten Veränderungen bewusst zu sein. Wir haben vier Schwerpunkte definiert, mit denen TAG Heuer sich voll entfalten und eine jüngere und breitere Zielgruppe für sich gewinnen kann. Mit unserem Claim «Don’t crack under pressure» kann sich jeder identifizieren, nicht nur die 25-40-Jährigen, die unsere Hauptansprechgruppe sind, sondern auch die 15-25-Jährigen. Unsere Kommunikation wird demzufolge auf Kunst (wie moderne Musik und Graffiti), Lifestyle (mit aktuellen Schauspielern wie Cara Delevingne), Sport (Autorennen sowie andere Emotionen vermittelnde Disziplinen) und die Entwicklungsgeschichte unserer Produkte ausgerichtet sein, die, wie die Carrera und die Monaco, das uhrmacherische Know-how von TAG Heuer symbolisieren. Die Marke wird sich stark weiterentwickeln.


Brice Lechevalier ist Chefredakteur und Mitbegründer von GMT (2000) sowie Skippers (2001) und leitet WorldTempus seit der Integration in das Unternehmen GMT Publishing als Ko-Aktionär. 2012 entwickelte er die Geneva Watch Tour. Seit 2011 dient er als Berater des Grand Prix d’Horlogerie de Genève. Im Bereich des Segelsports zeichnet er seit 2003 für die Veröffentlichung der Zeitschrift der Socitété Nautique de Genève verantwortlich. Er ist ferner Mitbegründer des 2009 ins Leben gerufenen SUI Sailing Awards (offizieller Schweizer Segelpreis) sowie des 2015 erstmals durchgeführten Concours d’Elégance für Motorboote des Cannes Yachting Festival.

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