4. Forum der Hohen Uhrmacherkunst

Nachdem die ersten drei Ausgaben des Forums der Hohen Uhrmacherkunst im World Economic Forum stattfanden, wurde die vierte Ausgabe mit dem Thema Time to Share am Vortag des Grand Prix d’Horlogerie de Genève Mitte November am IMD ausgetragen. Fabienne Lupo, Organisatorin und Präsidentin der Stiftung für hohe Uhrmacherkunst, wollte an diesem Studientag den Teilnehmern die Tragweite des Erbes der hohen Uhrmacherkunst vor Augen führen und den Austausch intensivieren. Franco Cologni, Präsident des kulturellen Rats der Stiftung, betonte nochmals, wie wichtig der Dialog für einen nachhaltigen Ansatz sei. Vor einem ausschliesslich aus Fachleuten der Uhrmacherei bestehenden Publikum beleuchteten Persönlichkeiten am Rednerpult die Uhrmacherei vom geschichtlichen, künstlerischen, demografischen und wirtschaftlichen Standpunkt aus und präsentierten je einen für die erfolgreiche Zukunft der Uhrenmarken sowie der aktuellen und zukünftigen Führungskräfte unabdingbaren Aspekt.

 

Bedeutung einer ausgeglichenen geografischen Risikoverteilung

Der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer war sichtlich angetan davon, vor einem für ihn so untypischen Publikum zu sprechen. Er betonte den vergänglichen Charakter der heutigen Zeit. Seit dem Fall der Mauer 1989 und somit dem Untergang der Supermacht Sowjetunion ist das internationale Gleichgewicht ins Wanken geraten. Die nunmehr alleinige Supermacht USA hat seitdem drei Kriege finanziert und gleichzeitig die Steuern gesenkt. Im gleichen Zeitraum erlebte die Welt das chinesische Wirtschaftswunder. Die enorme Verbreitung der neuen Technologien hat unser Weltbild revolutioniert und die Telekommunikation allerorts die Ansprüche an die Lebensqualität in die Höhe geschraubt. «Niemand kann es den Schwellenländern verwehren, endlich mit der Armut abschliessen zu wollen. In Europa ist der Konkurs eines Landes heute hingegen nicht mehr undenkbar», erklärte Fischer bei-spielsweise. Die südostasiatischen Regionen sind jedoch sehr instabil. Der Westen ist im Niedergang begriffen, die USA jedoch nicht, weshalb sie die einzige Macht sind, die die Rolle des Weltpolizisten übernehmen kann, vor allem seit der Wiederwahl Obamas, die die USA wieder in den Vordergrund des Weltge-schehens katapultieren könnte. Amerikaner und Chinesen unterhalten eine paradoxe und aufgrund ihrer so eng miteinander verflochtenen Wirtschaften unlösbare Beziehung. China muss jedoch erst zahlreiche interne Probleme lösen, bevor es sich politisch für den Rest der Welt interessieren kann. Der Nahe Osten ist eine weitere spannungsgeladene und in einem tiefen Wandel begriffene Region, deren Situation mit der Lage Europas im 19. Jahrhundert verglichen werden kann und deren historische Auswirkungen wir kennen. Fischer hofft vor allem, dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet, denn sonst werde diese Region zum Pulverfass. Als Letztes stellte er die Frage in den Raum, ob der Aufschwung des Islams so moderat wie in der Türkei verlaufen oder im Radikalismus münden werde. Der ehemalige Vizekanzler bezeichnete die aktuelle Zeit als Ära der Ungewissheit und neue Form der Stabilität-Volatilität.

 

Die Zukunftsforscherin für Geopolitik Virginie Raisson bestätigte diese spektakulären Veränderungen der Machtverhältnisse und katapultierte die Zuhörer ins Jahr 2030 und 2050. Sie hofft, dass sich ein Teil ihrer Trendanalysen und Zukunftshypothesen als falsch herausstellen werden. Die demografische Gewichtung soll sich dann zugunsten des Südens umgekehrt haben (Bsp.: Europa und Afrika verzeichnen 2030 die umgekehrte Situation von 1950: 9 und 19% der Weltbevölkerung). Die grossen Massen an Arbeitskräften von heute werden die Konsumenten von morgen sein: Im Jahr 2000 stammten 60% der Mittelklasse aus Europa und den USA, 2050 sollen es nur noch 10% sein. Die Umverteilung des Reichtums scheint unausweichlich, da alle G8-Länder verlieren und alle Schwellenländer an Boden gewinnen. Die Letzteren häufen kolossale staatliche Mittel für Investitionen, vor allem in Forschung und Entwicklung, an. Das frappierendste Beispiel ist Südkorea, das 1950 noch das zweitärmste Land der Welt war und inzwischen eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt geworden ist. Das winzige Katar hat mit seiner weltweiten Einkaufstour gerade erst begonnen. Die natürlichen Reserven werden zu wirtschaftlichen Waffen und der Zugang zu ihnen zu einer Frage des Überlebens. 50% der weltweiten Gasressourcen sollen dann im Iran, in Russland und Katar liegen. Die Uhrmacher erblassten bei einigen der Zukunftsthesen, zum Beispiel dass die Diamantreserven 2020 und die Goldreserven 2030 aufgebraucht seien. Ganz allgemein konsumieren die Industrieländer zu viel, und gemeinsam mit den aufstrebenden Ländern, die sich ebenfalls diesem Trend anschliessen, hat unser Planet keine Chance mehr, sich zu regenerieren. Virginie Raisson rief dazu auf, sich dessen bewusst zu werden und unsere Lebensweise zu überdenken, insbesondere «aus Liebe zu unseren Kindern».

 

Verantwortung und Strategien

Leslie T. Chang, China-Korrespondentin des Wall Street Journal, beschrieb das Streben der chinesischen Arbeiterklasse nach einem besseren Leben. «Sie lernen englisch, um ihre Lebensbedingungen hinter sich zu lassen, und strömen zu Millionen in die Städte», erklärte sie beispielsweise und untermauerte somit die These ihrer Vorrednerin in Bezug auf eine zunehmende Verschmelzung von Produktions- und Konsumzentren. Auch wenn sich in China die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert, wird eine der grössten Herausforderungen dieses Landes darin bestehen, mit der galoppierenden Unzufriedenheit der Massen umzugehen. Peter Brabeck-Letmathe, Verwaltungsratspräsident von Nestlé und Mitglied des Stiftungsrats des World Economic Forum, meint, dass die Unternehmen eine entschieden grössere soziale Verantwortung übernehmen sollten. In einer Welt mit zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit sei es auch möglich, diese Verantwortung im Zentrum der Strategie eines Unternehmens zu verankern. Selbstver-ständlich zitierte er Nestlé als Beispiel. Der Konzern entscheide über jeden neuen Fertigungsstandort entsprechend lokalen soziodemografischen Kriterien, die die regionalen Lebensbedingungen verbessern und somit neue Konsumenten generieren sollen. «Was machen wir 2050 mit einer Weltbevölkerung von 10 Milliarden, wenn heute bereits 2 Milliarden unter Hunger und Durst leiden und 1,4 Milliarden mit nur einem Dollar pro Tag auskommen müssen?» Er forderte alle Führungskräfte auf, sich persönlich und glaubwürdig für den Schutz zukünftiger Generationen zu engagieren, was ihm zufolge mit der Strategie eines Unternehmens durchaus kompatibel ist.

Dominique Turpin sprach auch von Strategie, aber ohne altruistische Dimension. Er lieferte ein überzeugtes Plädoyer für die Marke und das Branding. Er zitierte gelungene Diversifizierungsbeispiele wie Virgin und Yamaha und gescheiterte Versuche wie Xerox und Heinz. Der IMD-Präsident untermauerte seine Erklärungen mit Auszügen aus Marketingkursen des ersten Studienjahres. Eine neue Marke zu etablieren koste mehr Geld und Zeit als die Produktpalette einer bestehenden Marke zu erweitern, die zudem von Skalenerträgen profitieren könne. Die unerlässlichen Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Diversifizierung seien der vom Kunden wahrgenommene Wert dieser Neuheit bezüglich Andersartigkeit sowie der Bekanntheitsgrad der Marke. Der zu weit verbreitete Me-Too-Effekt sei zu vermeiden und die Relevanz der Zugehörigkeit einer Marke zu einer anderen zu analysieren (Garnier von l’Oréal).

 

Kunst und Sprache als Rettungsanker

«Zeit, Blut, Wasser und Geld fliessen.» Für die Philosophin und Spezialistin für soziale Kommunikation Francesca Rigotti hebt die Zirkulation den Wert der Dinge hervor. Unser Hirn assimiliert Flüssigkeit mit hohem Wert, egal ob es sich um Geld und Macht oder Blut und Wasser handelt. Es gibt unzählige Metaphern über Zeit und Raum («Ozean der Geschichte»), die die Zeit als beweglich und flüssig darstellen. Das altgriechische Sprichwort «nutze Worte wie Geld», das den Wert in den Vordergrund stellte, wurde in der Zwischenzeit durch das berühmt-berüchtigte Time is Money von Benjamin Franklin ersetzt. Die Bedeutung des Wortes Luxus («verrenkt», lateinisch im Sinne von «Abweichung vom Normalen») hat sich signifikant weiterentwickelt. Der bis zum 18. Jahrhundert negativ mit Aus-schweifung assoziierte Begriff wurde erst durch das merkantile Europa aufgewertet. Philippe Daverio, Kunstkritiker und Gründer von vier Galerien in Mailand und New York, machte einen Unterschied zwischen Luxus und Eleganz, einem Begriff, der vom Wort «auserwählt» abstammt. «Es gibt keinen wahren Luxus ohne Kultur und Ethik», betonte der Professor für Design und ehemalige Kulturverantwortliche der Stadt Mailand. Er sprach ausserdem vom frühen Verständnis der Griechen für Schönheit, «Glanz der Wahrheit und Echtheit». Die zeitgenössischste Bedeutung der Schönheit stammt seiner Meinung nach aus dem mittelalterlichen Frankreich und Italien. Die Schönheit sei aber auch eine Flucht vor der Verantwortung, warnte der vielsprachige und hochgebildete Referent und bedauerte gleichzeitig, dass die Verantwortlichen in Krisenzeiten der Semantik immer den Rücken kehrten. Worte spiegeln seiner Meinung nach die Vielschichtigkeit der Verhaltensweisen und somit die Geschichte der Völker wider. Als Beispiel dafür führte er die unterschiedliche Herkunft des Wortes «Uhr» an, das auf Französisch (montre = zeigen), Englisch (watch = schauen) und Deutsch (Uhr = Zeit und Uhr selber) ursprünglich andere Bedeutungen hatte. Er bewies, warum die Uhr das Sprachrohr der Zeit ist und wie sie die griechische Bedeutung von Zyklen materialisiert: Sie beginnt täglich neu. Er erklärte ausserdem, warum die Uhren-Begeisterung der Pariser im 15. Jahrhundert letztlich in Genf zum Ausdruck gelangte, nachdem diese Stadt von Savoyen und Rom befreit wurde und im 16. Jahrhundert der Kalvinismus seine Wirkung entfaltete. Die Schweizer
Uhrmacherei, so wie wir sie heute kennen, geht auf die Dok-trin Calvins zurück, der die Begriffe Vorherbestimmung und
Auserwähltsein mitbrachte und somit Tausende von Gold-schmieden anregte, ihr Fachwissen in den Dienst technischer
Eleganz zu stellen


Brice Lechevalier ist Chefredakteur und Mitbegründer von GMT (2000) sowie Skippers (2001) und leitet WorldTempus seit der Integration in das Unternehmen GMT Publishing als Ko-Aktionär. 2012 entwickelte er die Geneva Watch Tour. Seit 2011 dient er als Berater des Grand Prix d’Horlogerie de Genève. Im Bereich des Segelsports zeichnet er seit 2003 für die Veröffentlichung der Zeitschrift der Socitété Nautique de Genève verantwortlich. Er ist ferner Mitbegründer des 2009 ins Leben gerufenen SUI Sailing Awards (offizieller Schweizer Segelpreis) sowie des 2015 erstmals durchgeführten Concours d’Elégance für Motorboote des Cannes Yachting Festival.

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